Genau genommen ist in Köln kein Gebäude wirklich komplett barrierefrei. Das bemängelt auch Günter Bell, der Behindertenbeauftragte der Stadt Köln. Zusammen mit Behindertenvertretern macht er regelmäßig Inventur an öffentlichen Plätzen und Gebäuden. Das Ergebnis bleibt ernüchternd: Keine Leitsysteme für Blinde und Sehbehinderte, fehlende Aufzüge und schwer passierbare Kreuzungen. Weil das so ist, müssen seh- und gehbehinderte Menschen oft große Umwege in Kauf nehmen, denn um Kopfsteinpflaster, Treppen oder eine große Kreuzung müssen sie einen Bogen machen.
Das größte Hindernis stellt für viele der Verkehrsknotenpunkt Barbarossaplatz dar. Dort sind nur die Straßenbahn-Linien 12 und 15 barrierefrei zu erreichen. An den Linien 16 und 18 ist für Gehbehinderte ohne fremde Hilfe Endstation. Denn rein kommt man nur über drei Stufen. Auch für Blinde und Sehbehinderte ist der Platz mit seinen Kreuzungen, Ampeln, Autos und Straßenbahnen ein Problem. „Solange keine Lösung gefunden ist, die allen gerecht wird“, so Günter Bell, „können wir nichts ändern.“
Doch eine Lösung für alle zu finden, ist schwierig. Rollstuhlfahrer brauchen zum Beispiel einen möglichst kleinen bis gar keinen Randstein („Nullabsenkung“), damit sie ihn leicht überwinden können. Blinde und Sehbehinderte hingegen wünschen sich höhere Randsteine, um sie mit dem Stock ertasten zu können. Der Kompromiss an kleinen Kreuzungen und Straßenquerungen ist eine Höhe von drei Zentimetern – mit dem Blindenstock noch zu fühlen und mit dem Rollstuhl auch noch zu überqueren.
An großen Kreuzungen gibt es zwei unterschiedliche Randstein-Höhen. Ein Leitsystem aus Rillen- und Noppensteinen führt Blinde und Sehbehinderte zu dem Randstein-Abschnitt, der circa sechs Zentimeter hoch ist. Rollstuhlfahrer nutzen die Nullabsenkung daneben. Doch auch die Noppensteine für die Blinden sorgten für Unmut, und zwar bei den Benutzern von Rollatoren. Sie konnten mit ihren Gehhilfen nicht einfach drüber rollen. Doch nachdem die Noppen oben abgerundet wurden, sind beide Seiten zufrieden.
Beim Umbau des Heumarkts wurde alles auf den neuesten Stand gebracht. Neben den angepassten Bordsteinen gibt es dort mittlerweile Ampeln mit Anforderungstastern. Wenn der Ampelknopf gedrückt wird, vibriert er bei grünem Licht. Außerdem gibt es akustische Signalgeber, die Blinde und Sehbehinderte auf die andere Straßenseite lotsen. Bis 2020 sollen die meisten Plätze und Kreuzungen in Köln so umgerüstet sein.
Jedenfalls, wenn es nach Günter Bell und seinem vierköpfigen Team geht. Immer wieder weisen sie die Stadt auf Planungsmängel hin und beraten das Bauamt. Erst kürzlich fiel Bell auf, dass in den neu geplanten Flüchtlingsunterkünften keine barrierefreien Wohnungen vorgesehen waren. Durch seinen Hinweis wurden die Pläne kurzfristig noch einmal geändert.
Im Video: Barrierefrei ist anders
Jürgen Buchholz sitzt in einem E-Rollstuhl und ärgert sich darüber, dass er nicht einfach problemlos in die Altstadt fahren kann. Über Schwierigkeiten auf der Straße und in Bahnhöfen spricht die stark sehbehinderte Ute Palm. Und wie schwierig das Ausgehen mit einem Rollstuhl ist, erzählt Jennifer Westbomke.
Manchmal wird das Ziel der Barrierefreiheit jedoch aus Gründen der architektonischen Ästhetik aus den Augen verloren. Am Ottoplatz vor dem Bahnhof Deutz etwa ist alles Grau in Grau gestaltet: die Auffahrt, die Bänke, die Treppen. Dieses puristische Farbkonzept ist für Sehbehinderte ein Graus: Es fehlt an starken Farbkontrasten, an denen sich die orientieren könnten, die nicht komplett erblindet sind. Eine weitere Orientierungshilfe wären weiße oder gelbe Streifen auf den Treppenstufen sowie die weißen und gerillten Steine des Blindenleitsystems. Damit Sehbehinderte die Sitzbänke am Ottoplatz finden können, müssten diese zum Beispiel rot sein. Das aber finden längst nicht alle Verantwortlichen schön.
Auch im Stadtrat wird über solche Fragen gelegentlich diskutiert. Aber wenn es darum geht, weitere Projekte voranzutreiben, spricht Bell am liebsten mit Behindertenorganisationen aus der Region. Ihnen solle mehr Gehör gegeben werden, findet der 49-Jährige. Schließlich seien sie Experten in eigener Sache.
Interaktive Karte: Welche Gaststätten in Köln sind barrierefrei?
Jetzt sind Sie gefragt: Wo können auch beeinträchtigte Menschen problemlos einkehren? Und wo gibt es noch Nachholbedarf? Teilen Sie Ihre Erfahrungen – Hier können Sie Gaststätten zur Karte hinzufügen.
Besonders schwierig ist das Feld der privaten Bauten und Umbauten. „Eigentlich muss jedes Gebäude, das neu gebaut wird, von Gesetzes wegen barrierefrei sein“, sagt Bell. „Aber viele Bauanträge wurden trotz Mängeln genehmigt.“ Es habe lange gedauert, bis die Mitarbeiter des Bauamtes auf alle neuen Regeln geachtet hätten. Seit zehn Jahren regelt ein Gesetz die Gestaltung von Um- und Neubauten, aber nur langsam entwickelt sich bei den Verantwortlichen ein Bewusstsein für barrierefreies Planen. Selbst bei denkmalgeschützten Gebäuden ist der Umbau hin zur Barrierefreiheit zwar schwierig, aber nicht unmöglich. Hier ist die Kreativität von Architekt und Bauherr gefragt. Stört zum Beispiel eine Rampe für Rollstuhlfahrer die Optik einer alten Kirche, stellt ein Lift am Hintereingang eine Alternative dar. Die neuen Regeln lassen nur Ausnahmen zu, wenn der barrierefreie Umbau unverhältnismäßig teuer ist.
Die UN-Behindertenrechtskon-vention wurde im Jahr 2006 von der UNO-Generalversammlung in New York verabschiedet. In Deutschland trat das Abkommen drei Jahre später in Kraft. In den 50 Artikeln der Konvention wird die Pflicht der Staaten betont, Menschen mit Behinderung die Einhaltung der Menschenrechte zuzusichern. Dazu zählen vor allem Selbstbestimmung, Achtung der Menschenwürde, Diskriminierungsfreiheit und gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe. Bei keiner anderen Menschenrechtskonvention werden diese Rechte so stark betont wie hier.
Trotzdem fühlen sich Betroffene in Deutschland, Liechtenstein, Österreich und der Schweiz nicht ausreichend beteiligt. Die genannten Länder einigten sich ohne Mitsprache von Betroffenen und Verbänden auf eine offizielle deutsche Übersetzung. Größter Kritikpunkt ist das englische Wort „inclusion“, das mit „Integration“ übersetzt wurde. Deshalb haben deutsche Verbände eine Übersetzung vorgenommen, die ihrer Ansicht nach der Originalfassung näher kommt als die offizielle Version. Sie haben „inclusion“ auch mit „Inklusion“ übersetzt.
Integration bezeichnet die gesellschaftliche und politische Eingliederung von Personen oder Bevölkerungsgruppen, die sich zum Beispiel durch ihre ethnische Zugehörigkeit, Religion oder Sprache unterscheiden. Außerdem steht der Begriff für die (Wieder-)Eingliederung ehemaliger Mitglieder in die Gesellschaft (zum Beispiel von Menschen, die aus dem Gefängnis entlassen worden sind). Hier wird von den Menschen eine Integrationsleistung durch Anpassung an die bestehenden Verhältnisse erwartet. Die Integration scheitert im Alltag deshalb häufig – im Falle von Behinderten oft schon fehlenden Aufzügen.
Inklusion bedeutet wörtlich übersetzt „Zugehörigkeit“: Jeder Mensch kann ohne Einschränkungen und selbstbestimmt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Das gilt für die Schule genauso wie für den Arbeitsplatz oder die Freizeitgestaltung. Bei Menschen mit Behinderung setzt das voraus, dass die Umwelt im Idealfall so ausgestattet ist, dass der Unterschied zwischen „behindert“ und „nicht-behindert“ keine Rolle spielt. In Deutschland steht in der aktuellen Diskussion vor allem die Inklusion an Schulen im Mittelpunkt.
Seit 2002 gilt in Deutschland das Behindertengleichstellungs-gesetz (BGG). Es legt fest, dass Menschen mit Behinderung nicht benachteiligt werden dürfen und ihnen eine selbstbestimmte Lebensführung gewährleistet werden muss. Dazu soll zum Beispiel im Verkehr und beim Bau Barrierefreiheit hergestellt werden. Zusätzlich wurden Landesgleichstellungs-gesetze mit unterschiedlichen Intentionen erlassen. So verbietet das BGG Nordrhein-Westfalen sämtlichen Dienststellen und Einrichtungen des Landes, der Gemeinden und anderen unterstehenden Körperschaften sowie dem WDR die Benachteiligung von Behinderten.