Es ist Punkt vier Uhr nachmittags, als Andreas Göbel an diesem Dienstag das Herz der Mozartstraße öffnet. Wie jeden Tag dreht er den Schlüssel in der Ladentür um, zieht den Rollladen nach oben und schiebt den Sonnenschirm vor die Tür. Wie jeden Tag ordnet er die Auslage: Er rückt die Paprikachips nach links, die Erdnüsse nach rechts. Dann schaltet er den Röhrenfernseher in der Ecke ein – wie jeden Tag, seit Jahren. Seit 1997 betreibt Andreas Göbel den Kiosk in der Mozartstraße, der für ihn mehr ist als eine Verkaufsstelle für Paprikachips und Erdnüsse: „Hier am Büdchen soll nicht nur verkauft werden“, sagt Göbel, „hier soll Harmonie entstehen!“ Büdchen, so nennt man im Rheinland, was im Ruhrgebiet Trinkhalle, in Hamburg Kaffeeklappe oder im Rest der Republik schlicht Kiosk heißt. Neuneinhalb Minuten braucht jeder Deutsche von seiner Wohnung bis zum nächsten Kiosk, so sagen es die Statistiker. Es sind diese „Kleinststrukturen des Einzelhandels“, in denen sich das rheinische Zusammenleben spiegelt: Sie sind öffentlicher Stammtisch, kollektives Wohnzimmer, Barometer der Befindlichkeiten. Andreas Göbel etwa hat das Lager seines Büdchens zu einer Kneipe im Kleinformat umgebaut. Hat die Wände des Bretterverschlags mit Fotos aus seinem Leben zugekleistert. Göbel als rebellierender Jugendlicher in der DDR. Göbel als Aktmodell. Göbel im Porträt. „Ossi, Neger, schwul – ich bin eine dreifache Minderheit.“ So sagt es Göbel selbst. Vielleicht, sagt er, könne er deshalb gut mit unterschiedlichen Charakteren umgehen. Mit Rentnern und Studenten, mit Kreativen und Bürokraten. Vordergründig kommen sie zu Göbel, um eine Schachtel Zigaretten mitzunehmen. Aber eigentlich kommen sie, um über den nächsten Urlaub zu sprechen oder darüber, dass die Frau vom Fritz neuerdings Stimmungsaufheller bekommt. Wegen Altersdepressionen. „Schwätze, schwätze, schwätze“, sagt Göbel. Das ist sein Hauptgeschäft. Mit Detlef zum Beispiel. Vor ein paar Jahren ist der in die Mozartstraße gezogen, erzählt Göbel. Irgendwann kam er vorbei und hat erzählt. Fünf Stunden aus seinem Leben: Wie er mal eine Zeitlang im Auto geschlafen hat und was er alles in seiner wilden Jugend erlebt hat. Naja, und getrunken hat er dann auch ein bisschen was, der Detlef. Naja, und er selbst dann auch, erzählt Göbel. Und dann hat der Detlef später sogar die Bernadette im Kiosk kennengelernt, seine Freundin. „Fritz, mein Lieber, komm‘ rüber“, ruft Göbel um kurz nach fünf über die Straße, An dieser Stelle zeigt er sich, der Gummi-Göbel. Göbel passt sich jedem seiner Gäste an, sein Kiosk ist für jeden da. Gegenüber dem Tresen hat Göbel einen kleinen Altar aufgebaut mit einem Foto Papst Johannes Pauls II. und Lava-Lampe daneben. Dass der Papst Homosexualität abgelehnt habe? Egal, sagt Göbel. Toleranz bis zur Selbstaufgabe, das ist die Lehre aus seiner Biografie. Vor zwei Jahren, da hätten sie ihn fast platt gemacht: Seinen Kiosk und sein Leben gleich mit. „Sie“, das waren die Beamten vom Ordnungsamt. Sie sagten, seine legendären Feiern im Büdchen seien nicht rechtens. Weil er sein Büdchen abends an Privatleute vermietete und ihnen gleich noch alle Getränke lieferte. Weil er so die Gastrolizenz umging. So erzählt es jedenfalls Göbel. Seine Halle schrumpfte binnen Sekunden von seinem Lebensinhalt auf das, was sie architektonisch ist: Ein Bretterverschlag in einer Kölner Baulücke. Er hätte einen Konzessions- und einen Bauantrag stellen müssen. Er hätte tausende Euro für einen Umbau auftreiben müssen. Er hätte nicht nur Brandschutztüren montieren müssen, sondern auch eine zweite Toilette. Göbel knallte den Beamten seine Kiosklizenz auf den Tisch: „Sorry, das war’s Leute!“ Vielleicht ist Göbels Geschichte auch die Folge eines Irrtums: Dass Trinkhallen auch der Geselligkeit dienen, sieht der Staat anders. Betreiber ohne Zusatzlizenz dürfen im Kiosk keine Flaschen öffnen, nicht auf die Tasten des Kaffeeautomaten drücken und auch keine Bank vor ihrem Laden aufstellen. Deswegen hängen so häufig Flaschenöffner an den Türen der Kioske. Der Staat hat nicht gemerkt, dass die Kioske längst nicht mehr nur „funktionaler Nahversorger im urbanen Raumgefüge“ sind. Göbel drückt eine Zigarette im Aschenbecher aus. Die Feiern waren ihm wichtig. Für den Zusammenhalt im Viertel. Aber auch finanziell. Denn Kioskbetreiber müssen ums Überleben kämpfen – nicht nur wegen hoher Mieten. Die Büdchen leiden auch unter der Liberalisierung: Supermärkte dürfen inzwischen bis 22 Uhr, manchmal sogar bis 24 Uhr öffnen. Die Zeiten, in denen der Kiosk ein Retter nach Ladenschluss war, sind längst vorüber. Er hat trotzdem nicht aufgegeben. Es waren seine Nachbarn, die ihn überzeugten: „Andreas, du musst bleiben“, sagten sie und gingen an die Presse. Zu wichtig war ihnen dieses „Wohnzimmer der Mozartstraße“, das in der anonymen Millionenstadt die Menschen verdrahtet. Das Nachbarn Hilfe vermittelt und manchmal auch Partner. Das noch nicht auf Hochglanz gentrifiziert ist, sondern seinen anarchischen Charakter bewahrt hat. „Kult-Büdchen vor dem Aus“, titelte der Kölner Stadt-Anzeiger. „Amt verbietet Kult-Büdchen“, sendete RTL. Die Politiker kamen in Göbels Büdchen und riefen eine Sondersitzung der Fraktionschefs ein. „Das ist ein Stück Stadtkultur, das durfte einfach nicht verschwinden“, sagt Marco Malavasi von der Kölner SPD heute. Schlussendlich konnte Göbel den Kiosk behalten, beim Umbau halfen die Nachbarn, jetzt hat er eine Gastrolizenz. „Was alles geht, wenn man ein bisschen rumklüngelt“, sagt Göbel und lacht. Auch Ton van Londens Kioskgeschichte ist eine der Bemühungen: Van Londen hat das alte Büro von „Petras Kiosk“ in der Weißenburgstraße zu einer Raucherlounge umgestaltet. Hat den Fußboden abgeschliffen, und nach einer Woche auf den Knien gemerkt: Manche Flecken lassen sich nicht wegschleifen. Hat Bordüren an die Decke geklebt und sich dabei zwei Rippen gebrochen. Van Londen hat eingesteckt, aber dafür kann er jetzt austeilen: Regelmäßig organisiert er im Hinterzimmer seines Kiosks Lesungen, Konzerte und Kabarettabende. Um Punkt 18 Uhr beginnt bei van Londen in Neustadt-Nord die „Frühschicht“. „Ob Lehrer, Juristen oder Computertechniker, bei mir kommen alle vorbei“, sagt der Kioskangestellte. An diesem Abend sitzen Beate und Wilfried in seiner Raucherlounge. Klar, sie könnten auch in ihrem Wohnzimmer sitzen, sie sitzen aber in einem Kiosk. „Ihrem“ Kiosk, wie sie sagen. Beate und Wilfried schweigen vor sich hin, schauen durch das Fenster auf die Straße, nippen an ihrem Kölsch und gabeln ein paar Nudeln von ihrem Plastikteller auf. In van Londens Kiosk wird ohne Worte viel gesagt. Das ist nicht ungewöhnlich; die Berliner Soziologin Elisabeth Naumann hat die Kommunikation am Kiosk in ihrer Doktorarbeit untersucht. Das Werk hat ihr den Titel „Frau Dr. Büdchen“ eingebracht. „Der Kontakt am Kiosk verläuft stark ritualisiert, gelegentlich auch nahezu sprachlos“, erklärt die Soziologin in ihrem Buch. Geübte Kioskbesitzer wüssten eben genau, was die Stammkunden wollten. Da brauche es nur ein „Morjen“, „Tach“ oder „Hallo“ und dann sei eigentlich schon alles gesagt. „In der Kürze der Kommunikation zeigt sich ganz deutlich die stille Vertrautheit von Kunden und Ladeninhabern“, sagt auch der Siegburger Büdchenexperte und studierte Volkskundler Berthold Heizmann. 30 Jahre hat van Londen vor seiner Zeit im Kiosk am Theater und als Regisseur im Kabarett gearbeitet. Hat Varietéveranstaltungen organisiert und an den Programmen mitgeschrieben. „Keiner, der mit sich im Reinen ist, geht auf eine Bühne“, sagt van Londen heute und lacht. Künstler wie er bräuchten den Applaus. Deswegen kam für van Londen nach dem Abschied vom Theater nur der Kiosk in Frage: Hier hat er wieder eine Bühne, eine eigene. Auch van Londens Künstlerkollegen mögen seine Raucherlounge und sie mögen den Kiosk. Allein dieses Wort: Kiosk. Das klingt nach Authentizität, nach Heinrich Zilles Milljöhskizzen, nach dem echten, dem unverfälschten Leben. Oder wie man heute sagt – nach Street-Credibility: „Ich häng immer noch am Büdchen ab mit den Jungs im Süden der Stadt. / Du gehst zu Starbucks? Ich geh zu Kölsch, Kippe, Lederjacke!“ So rappt es die Kölner Hip-Hop-Nachwuchshoffnung Veedel Kaztro auf seinem Büdchen-Tape. Das Büdchen, es prägt das Bild des Lebens im Rheinland durch alle Generationen und Schichten. In der WDR-Serie „Die Anrheiner“ gehörte über 16 Jahre ein Kiosk unverzichtbar zum Fernseh-Rheinland: „Et Büdschen, et jehört doch zum Veedel wie dr Dom zu Kölle“, sagte Uschi Schmitz, als ein Vertreter das Büdchen zur Spielhölle umgestalten wollte. Und als die Besitzerin auf einmal müde und schwach wurde, da sagten zwei Viertelbewohnerinnen: „Et Veedel ohne et Büdchen, das könne mr uns nit vorstelle.“ Der Kiosk von Heinz Lauterbach soll solch ein Muster-Büdchen sein. 2006 hat die Kölner Mundartband „Bläck Fööss“ das Klettenberger Büdchen zum „schönsten und besten der ganzen Stadt“ gewählt. Lauterbach hat acht Jahre später keine Ahnung von der Auszeichnung. „Vor meiner Zeit“, grummelt der Kioskbesitzer durch die Kiosk-Luke. Lauterbach ist keiner, der jedem gleich freundlich entgegen lächelt. Lauterbach verengt seine Augen zu Schlitzen, wenn ein Fremder sich nähert, verschränkt seine Arme. Lauterbach sagt Sätze wie „Ich bin doch nicht die Wechselstube der Nation“. Und: „Ich kann ja hier nicht für alle den Hampelmann machen“. Oder: „Wenn hier jemand einbricht, dann kann er beten, dass die Polizei vor mir da ist.“ Der Heinz, sagen seine Kunden, das ist noch ein Typ: Einer, der das Ruppige lebt, das Schnoddrige hochhält. Keiner für die weichgespülte „merkantile Freundlichkeit“ der Supermärkte. „Das läuft bei mir echt nicht“, sagt Lauterbach. Schließlich muss er ja das Viertel im Griff behalten. Als einer mal ’nen Hund ausgesetzt hat, da hat er’s mit dem Heinz zu tun bekommen. Muss ja alles seine Ordnung haben hier. Dafür ist er da, der Heinz. Es ist sein Dienst für das Zusammenleben. „Haste noch Lakritzschnecken?“ Gegen Mittag wuchtet ein Mann mit eingefallenen Wangen und speckigen Haaren eine Tasche Leergut auf die Fensterbank vor Lauterbachs Kiosk. „Nimms’ du auch die Büchse vun min Fründ?“, krächzt der Mann. Lauterbach nickt. „Gutmütigkeit und Lieblichkeit, das find man nich‘ mehr oft heutzuztage“, singt der Mann vor sich hin. Lauterbach nimmt die Pfandflaschen und lässt sie wortlos in die leeren Getränkekisten fallen. Lauterbachs Kiosk steht auf der Ecke eines Parkplatzes; da, wo Klettenberg ausfranst in die Kölner Peripherie. Die Baracke schaut mitten auf eine große, graue Straßenkreuzung an der Luxemburger Straße, eine der großen Kölner Ausfallstraßen. Alle fünf Minuten schiebt sich eine quietschende Tram am Kiosk vorbei, ab und an lassen Männer mit polierten Flitzern ihren Auspuff röhren. Lauterbachs Verschlag wirkt wie hineingekantet in die Kreuzung und weggedrückt an den Parkplatz-Rand. Hineingerempelt in das ganze Umfeld. Lauterbachs Büdchen zeigt: Der Kiosk widersetzt sich seit jeher der Stadtplanung. Erst widersetzte er sich dem stadtplanerischen Dogma der 70er-Jahre, Arbeit, Wohnen und Konsum müssten räumlich getrennt sein. Später der modernen Stadtplanung mit ihren Hochglanzfassaden. Heute der ökonomischen Vorstellung, in der Stadt müssten auch auf kleinstem Raum höchste Profite gemacht werden. Kioske sind Orte für den Einkauf um die Ecke statt auf der grünen Wiese. Orte, an denen Lieschen Müller und Dr. von Stein noch aufeinandertreffen. Orte, denen die stumme Selbstbedienung der Supermärkte meist fremd ist. „Oasen in der Großstadtwüste“, so hat es die FAZ einst beschrieben. Lauterbachs Büdchen zeigt: Der Kiosk widersetzt sich der Stadtplanung. Erst widersetzte er sich dem stadtplanerischen Dogma der 70er-Jahre, Arbeit, Wohnen und Konsum müssten räumlich getrennt sein. Später der modernen Stadtplanung mit ihren Hochglanzfassaden. Heute der Vorstellung, in der Stadt müssten auch auf kleinstem Raum höchste Profite gemacht werden. Kioske sind Orte für den Einkauf um die Ecke statt auf der grünen Wiese. Orte, an denen Lieschen Müller und Dr. von Stein noch aufeinandertreffen. „Oasen in der Großstadtwüste“, so hat sie die FAZ einst beschrieben. Vor dem Kiosk von Andreas Göbels Kiosk stand lange eine Palme, sein Kiosk soll eine dieser Oasen sein. Drinnen blättert Göbel durch seine DVD-Sammlung und zieht eine schwarze Hülle hervor. „Das Leben ist ein Kiosk“ haben Redakteure von RTL-West die fünfteilige Serie aus Göbels Alltag genannt. Göbel blickt auf von der DVD und starrt auf die Straße. Kurz atmet er ein und bleibt doch stumm. Dann dreht er den Kopf nach links und sagt. „Ja, doch, so ist es: Das Leben ist ein Kiosk.“ Fotoquellen:
Schwätze, schwätze, schwätze
Ach ja, und dann gibt’s da noch den Matthias, der bei der letzten Papstwahl Göbels Gesicht aus einem Foto ausgeschnitten und am Computer in eine Figur des Papstes montiert hat. Und dann ist da noch Fritz Feige. Den kann man nicht beschreiben, den muss man erleben, sagt Göbel. Der 94-Jährige kommt seit Jahren jeden Tag vorbei – wenn seine Frau ihn lässt.
„gut siehst du aus, wie immer Ton in Ton.“
„Ja, die Kleidung hab ich immer akkurat. Das lernt man so beim Militär!“, sagt Feige.
„Disziplin und Orrrrdnung!“, krächzt Göbel und grinst verstohlen.
„Es ist gut, dass du immer da bist“, sagt Feige und man merkt, dass er die Ironie nicht verstanden hat.„Sorry, das war’s Leute!“
„Es gibt Tage“, sagt Andreas Göbel, „in denen stundenlang niemand kommt und hier die Heizung läuft. Dann sehe ich das Geld in den Gully wandern.“ Göbel steckt sich die nächste Zigarette an und bläst den Rauch in die Luft.Das Kiosk als Bühne
Muss ja alles seine Ordnung haben
„Nee, hab ich nich. Sind aus“
„Scheiße!“
„Hab ich auch nich.“
So läuft das beim Heinz.Oasen in der Grossstadtwüste
Titelbild: Michael Bause/KStA
Weitere Bilder: Simon Albersmeier/gemischtetüte.de
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