„Was fällt Ihnen zu Ludwig Erhard ein?“, fragt Helene Schneider. „Zigarren“, ruft jemand von hinten. „Dicker Bauch“, kommt als Antwort. Eigentlich wollte die Lehrerin das Stichwort „Soziale Marktwirtschaft“ hören. Trotzdem ist das wohl mehr, als die meisten Deutschen über ihren Ex-Kanzler wissen. Dabei sind die Menschen, die hier im Bezirksrathaus von Köln-Mülheim Bundeskanzler pauken, weder Geschichtsstudenten noch Zeitgenossen Ludwig Erhards. Die meisten von ihnen sind erst seit wenigen Monaten in Deutschland. Es sind Einwanderer und Asylbewerber. Im Orientierungskurs der Volkshochschule Köln sollen sie Politik, Geschichte und Kultur ihres neuen Wohnorts kennen lernen. Mit einem handfesten Ziel: Nach drei Wochen mit täglich vier Stunden Unterricht erwartet die Teilnehmer ein Abschlusstest des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. 33 Fragen zum Thema „Leben in Deutschland“ müssen sie dann beantworten; Fragen, an denen sich so mancher Abiturient die Zähne ausbeißen würde: In welchem Jahr wurde der Warschauer Pakt beschlossen? 1955. Woran erinnert der Gedenktag am 27. Januar? An die Opfer des Nationalsozialismus. Wer schrieb den Text der deutschen Nationalhymne? August Heinrich Hoffmann von Fallersleben. Wer den Test besteht, muss im Fall einer Einbürgerung keine weitere Prüfung mehr ablegen.
Die 33 Fragen sind allerdings nur der letzte Teil eines Integrationskurses, der über Monate läuft: Vor dem Orientierungskurs bei Lehrern wie Helene Schneider steht ein 600-stündiger Sprachkurs auf dem Plan. In Köln haben nach Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge im Jahr 2013 etwa 2700 Menschen mindestens einen Teil des Integrationskurses besucht. In den Kursen treffen Menschen aus aller Welt aufeinander – nicht selten aus Ländern, die miteinander verfeindet sind. Die 14 Teilnehmer des Orientierungskurses im Mülheimer Rathaus etwa kommen aus zwölf verschiedenen Nationen. Darunter die Ukraine, Argentinien, Nigeria und der Iran. Ein Teilnehmer ist seit zwei Jahren hier, andere erst fünf Monate. Die Gründe, warum sie nach Deutschland gekommen sind, sind vielfältig. Der Argentinier Diego möchte seiner deutschen Freundin näher sein. Die Polin Sylvia hofft in Deutschland Arbeit zu finden und der Iraner Alireza verließ sein Heimatland aus politischen Gründen.
Helene Schneider, die Lehrerin, heißt in Wirklichkeit anders. Aber weil sie fürchtet, durch ihre Offenheit auf Kritik zu stoßen, ist ihr Name in diesem Beitrag geändert. Schneider unterrichtete früher an einer Gesamtschule Geschichte und Politik. Im Orientierungskurs gibt sie ihren Schülern auch praktische Hinweise mit auf den Weg: Sie erklärt ihnen zum Beispiel, wohin Frauen gehen können, die von ihren Männern geschlagen werden, was ein Ehevertrag ist und welche Rechte Bürger gegenüber Behörden haben. Außerdem legt sie Wert darauf, ihren Schülern nicht nur Jahreszahlen und Grundgesetzartikel zu vermitteln. „Mein Ziel ist es, dass sie ein bisschen verstehen, wie Deutschland tickt“, sagt sie, „ich versuche den Migranten unsere Werte möglichst gut vorzuleben.“ Etwa, wenn es um das Thema Religion geht – ein Thema, mit dem die Kursteilnehmer ganz unterschiedlich umgehen. Manche sind sehr gläubig, andere nicht; manche sind Muslime, andere Christen. Helene Schneider zeigt ihnen eine Karikatur über den ehemaligen Limburger Erzbischof Franz-Peter Tebartz-van Elst. „Ich zeige ihnen so, dass ich über meine eigene Religion auch lachen kann.“
Gelegentlich entbrennt in ihrem Kurs heftiger Streit – etwa, als es um Ursula von der Leyen geht, die deutsche Verteidigungsministerin. „Ich finde, Frauen können das nicht. Die haben dazu nicht genug Kraft“, sagt der Tunesier Khaled. „Das geht schon, denn Minister müssen sich ja nur um Verwaltungsaufgaben kümmern, das können Frauen genauso gut“, erwidert der Ägypter Hany neben ihm. Sophia, eine junge Marokkanerin, mischt sich ein: „Manche Frauen sind schlauer als Männer.“ Doch Khaled bleibt bei seiner Meinung. „Eine Mutter von sieben Kindern“, sagt er, „die sollte zu Hause bleiben.“ Diskussionen wie diese provoziert Schneider immer wieder. „Die Leute müssen sich an unsere Werte gewöhnen“, sagt sie. Besonders heikel sei das Thema Homosexualität. Nicht nur den Muslimen im Kurs, auch den oft streng katholischen Osteuropäern falle es schwer, diese zu akzeptieren. „Was würden Sie machen, wenn Sie einen Sohn hätten, der homosexuell ist?”, fragt Schneider die Marokkanerin Imam. Imam ist 21 Jahre alt und vor fünf Monaten mit ihrem Ehemann aus Marokko gekommen. In Deutschland hofft sie studieren zu können. Ihre Haare verhüllt ein Kopftuch. „Ich würde mit ihm reden“, sagt die Marokkanerin. „Aber das wird sehr wahrscheinlich nichts ändern“, antwortet die Lehrerin. „Dann soll er sich seine Freiheit nehmen“, sagt Imam, „aber ohne mich!” Auch ihre Sitznachbarin Sophia hält nichts von Homosexualität. Doch die 30-Jährige, die ebenfalls aus Marokko stammt, weiß, dass in Deutschland andere Werte herrschen als in ihrer Heimat und sie diese tolerieren muss. „Deutschland ist viel freier, bei uns spricht dagegen keiner über Homosexualität“, sagt Sophia, „deshalb ist das für uns unnatürlich.“ Helene Schneider nennt solche Fälle „Grenzen der Integration”. Einige kulturelle Unterschiede ließen sich einfach nicht überwinden. Auch bei Themen wie Beschneidung, Atheismus und freizügiger Kleidung herrschen im Kurs unterschiedliche Ansichten. Genau deswegen findet die Lehrerin es wichtig, darüber zu sprechen. „Die Leute brauchen ihre Grundsätze nicht zu ändern“, sagt Schneider, „aber sie müssen tolerieren, dass andere Menschen anders denken.“
Alle Zuwanderer aus nicht EU-Staaten haben seit 2005 das Recht, einen Integrationskurs zu besuchen. Sie sind sogar dazu verpflichtet, sofern sie nicht das Sprachniveau B1 haben, also nicht ausreichend Deutsch sprechen, um sich im Alltag in Deutschland zurecht zu finden. Kommen sie ihrer Pflicht nicht nach, ist es möglich, dass ihre Aufenthaltsgenehmigung nicht verlängert wird. EU-Bürger können nicht zum Besuch eines Integrationskurses verpflichtet werden. Sie dürfen allerdings teilnehmen, wenn noch Plätze im Kurs frei sind. Im Jahr 2013 haben nach Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge bundesweit mehr als die Hälfte aller Teilnehmer den Integrationskurs gemacht, ohne dazu verpflichtet gewesen zu sein.
Voraussetzung, um einen Integrationskurs zu unterrichten, ist ein abgeschlossenes Lehramtsstudium in Deutsch als Fremdsprache. Wer einen solchen Studienabschluss nicht vorweisen kann, muss in einem 140-stündigen Kurs eine Zusatzqualifizierung erlangen. Diese Bedingung gilt sowohl für den Sprach- als auch für den Orientierungskurs. Eine zusätzliche Fortbildung für das Unterrichten eines Orientierungskurses wird vom Bundesamt für Migration zwar empfohlen, ist aber keine Pflicht.