Wir stehen auf dem Gelände des ehemaligen Güterbahnhofs in Köln-Ehrenfeld. Im Dunkeln. Matschbespritzt. Durchgeschwitzt. Nach zwei Stunden Fahrt mit dem Fahrrad und mehreren Zwischenstopps, ist das für heute die letzte Station. Einmal quer durch Köln waren wir unterwegs. Vorbei an Diskotheken, Kneipen und durch Parks. Über belebte Fußgängerwege und verlassene Parkplätze. Vorbei an grölenden Jugendlichen, schlafenden Obdachlosen, an Taxis und tiefergelegten Sportwagen. Entlang vierspuriger Straßen und querfeldein.
Die Route kannte vorher keiner von uns. Und das jetzt, mit dem Dreck, den nassen Schuhen. Das wussten wir vorher auch nicht. Um zu verstehen, warum wir nachts um halb eins, mutterseelenallein und müde in dieser Mordskälte irgendwo in einem abgelegenem Garten stehen, umgeben von Sträuchern, unseren Rädern und der Hand voll Mitfahrer, muss man den Abend noch einmal von vorne aufrollen.
Im Internet hat Gabi Linde zum sogenannten Midnight Mystery Ride aufgerufen. Kennengelernt hat die 43-Jährige die Aktion in San Francisco. Sie war so begeistert von der Aktion, dass sie beschloss, den Midnight Mystery Ride nach Deutschland zu importieren. Seitdem gibt es die kostenlose Gruselradtour auch in Köln. Einmal im Monat lädt sie zu der zwei- bis dreistündigen Fahrt ein, deren Strecke nur sie vorher kennt. Was bei den Zwischenstopps passiert – Kunst, Literatur, Schauspiel oder vielleicht etwas ganz anderes-, plant sie vorab. Ihre Mitfahrer hingegen wissen von nichts.
Heute startet die Tour an der Nikolauskirche in Sülz. Den ganzen Tag lang hat es geregnet. Es ist diesig, der Atem wird in der Luft zu weißen Wolken. Gabi trägt schwere Wanderschuhe. Andere Teilnehmer haben Mütze und Handschuhe dabei. „Passt auf, dass ihr nicht wegrutscht“, warnt sie, „das Laub ist nass“. Eigentlich heißt es ja „Midnight Mystery Ride“. Aber die Kirchturmuhr zeigt nicht Mitternacht, sondern 22 Uhr an. Heute machen wir mal eine Ausnahme. Stockfinster ist es sowieso.
Damit trotz des schlechten Wetters genug Teilnehmer kommen, hat Gabi ordentlich die Werbetrommel gerührt und über die Facebook-Gruppe der Nettis, die Fahrradaktion Critical Mass und „Neu in Köln“ zum Midnight Mystery Ride eingeladen. Am Ende sind zwölf Teilnehmer gekommen, drei Frauen und neun Männer.
„Ich möchte mit der Aktion fremde Menschen zusammenbringen“, erklärt Gabi, die sich selbst als urbane Künstlerin bezeichnet, ihre Motivation. „Ich wünsche mir, dass man auf die Straße geht und auf Leute trifft, die man kennt und so ein besseres Zusamenleben entsteht.“ Community Building nennt sie das nach ihrem amerikanischen Vorbild. So gesehen eine moderne Form von Stadtteilarbeit. Zu Gabis bisher bekanntesten Kennenlern-Aktionen gehört die „Meine erste Liebe war“-Zettelreihe. Dazu klebte sie vorgedruckte Karten mit dem Satzanfang „Meine erste Liebe war…“ an ein Caféfenster. Passanten konnten die Zettel ergänzen. „Die Leute haben sich darüber unterhalten, Fotos gemacht, sich erinnert und ausgetauscht.“
Einen ähnlichen Austausch möchte sie auch heute Abend ermöglichen. Jeder Mitradler wird mit einem Klingeln begrüßt. Es wird viel gelacht. In der Runde ist man direkt per Du, fast alle sind aus Köln. Sieglinde ist heute mit 57 Jahren die älteste Teilnehmerin. Sie ist voll ausgestattet: An Armen und Beinen blinken rote Leuchtbänder, ihren Fahrradkorb hat sie mit Blumen geschmückt. Ein anderer Teilnehmer ist Alexander. Der 27-Jährige studiert an der Sporthochschule und klettert auf ein klappriges Hollandrad, dessen Rückleuchte nicht mehr so ganz funktioniert. An ihm vorbei rauscht Marcus. Sein Moutainbike sieht aus, als ob er sich stattdessen auch einen Kleinwagen hätte leisten können. Heute sind sie hier, um sich gemeinsam auf ein kleines Abenteuer einzulassen. „Eine Nachtwanderung für Erwachsene“, wie Sieglinde es nennt.
Vom Nikolausplatz geht es vorbei an der Universität zur Aachener Straße. Im Dunkel der Nacht passiert die Gruppe knallbunt beleuchtete Schaufenster, bevölkerte Büdchen und an Ampeln wartende Autofahrer. Es geht zum Brüsseler Platz, Szenetreffpunkt aller gemütlichen Limotrinker und feierwütigen Nachteulen. Einige Passanten winken uns freundlich zu, andere werfen uns fragende Blicke zu. „Das ist schon ein etwas komisches Gefühl“, sagt Alex.
„Was solln das fürn Scheiß sein?“
Weiter geht es Richtung Friesenplatz. Mitfahrer Anselm ruft laut: „Lasst uns auf der Straße fahren.“ Klingelingeling – ein bisschen Revoluzzergeist fährt auch mit. Dann kommen wir an unserer ersten Station an, die Kunstgalerie Wertheim. Galerist Oliver Struch öffnet uns die Türen. „So, jeder hat zehn Minuten Zeit, sich alles einmal anzuschauen, wenn er mag“, sagt Gabi. Zwei Teilnehmer möchten lieber draußen warten. Als wir wieder raus kommen, sind die beiden Männer verschwunden. Dezimiert geht’s weiter. Eine Gruppe Jungs grölt uns zu, als wir um einen Springbrunnen düsen: „Was solln das fürn Scheiß sein?“
Jetzt beginnt der eigentliche „Mystery“-Teil unserer Fahrt. Wir nähern uns einem Park. Es geht vorbei an einem schnarchenden Obdachlosen, der es sich auf einer Bank gemütlich gemacht hat. Hier ist es stockfinster bis auf das Licht der Fahrradlampen, die mal mehr, mal weniger gut funktionieren. Wir schrecken Kaninchen und zwei Mädels auf, die hier mit ihren Hunden Gassi gehen. Zweite Station ist eine Schaukel im Mediapark. Nach einer Rund Wippen trommelt Gabi alle für ein Spiel zusammen. Mitten in der Nacht spielt eine Gruppe Erwachsener johlend und jauchzend„Turtle Wushu“: Jeder der Spieler hat eine kleine Plastikschildkröte auf dem Handrücken und versucht, fremde Schildkröten runter zu schlagen, ohne das die eigene zu Boden fällt. Ein Polizeiwagen fährt vorbei. Er wird langsamer, leuchtet uns kurz entgegen. Dann fährt er weiter.
Nach drei Runden Turtle Wushu führt uns Gabi weiter über Schleichwege und Trampelpfade. „Sind wir eigentlich in Ehrenfeld?“, fragt ein Teilnehmer. Die Orientierung haben wir längst verloren. Gabi strahlt und fragt einen der versierten Kölner: „Den Weg kannstest du jetzt auch nicht, oder?“ Dann geht das Gerücht rum, wir seien in Nippes.
Über einen Parkplatz kommen wir schließlich auf einem Gelände mit einigen Blumenkästen und Holzbänken an. Gabi stellt für uns Teelichter auf und eröffnet uns, dass wir jetzt im „Gartenbahnhof Ehrenfeld“ angekommen sind, einem mobilen Kistengarten, den der Verein Gartenwerkstatt auf dem Gelände des ehemaligen Güterbahnhofs angelegt hat. Plötzlich taucht ein Junge mit einer Akustikgitarre auf. Milan alias „I shot Kleist“ singt für uns selbstgeschriebene Lieder über Herzschmerz und Trennung. Er schrammelt auf seiner Gitarre. Stampft mit dem Fuß. Versucht, im Dunkeln die richtigen Saiten zu treffen. Im Hintergrund rauschen vereinzelt S-Bahnen und Züge vorbei. Nach einigen Liedern verabschieden sich die Ersten leise und freundlich voneinander. Man sieht sich. Spätestens im nächsten Monat.