Leben mit Gleichgesinnten

Mit Gleichgesinnten zusammen zu leben, wird immer beliebter. In Köln und Umgebung sind in den letzten Jahren zahlreiche solcher Wohnprojekte entstanden – und neue sollen folgen.

In Steyerberg bei Hannover gibt es eine esoterische Kommune, in Berlin eine Gruppe, die versucht, ohne Geld auszukommen und in Dortmund wohnen Senioren in einer Wohngemeinschaft zusammen und kümmern sich umeinander. Neue Projekte sind in Planung – etwa ein Inklusionshaus mit Therapiezentrum im Allgäu und ein Haus für HIV-positive schwule Männer in Köln. Wie das Leben in Wohngemeinschaften aussehen kann und weshalb die Bewohner dort eingezogen sind, zeigen drei Beispiele.

„Autofreie Siedlung Nippes“

Ruhig ist es hier auf dem ehemaligen Bahngelände in Köln-Nippes. Ab und zu hört man spielende Kinder oder eine Fahrradklingel. Gelegentlich hört man auch einen Zug vorbeirauschen. Doch etwas gibt es hier definitiv nicht: Motorengeräusche. Seit sieben Jahren steht hier in der Nähe der Neusser Straße die erste autofreie Siedlung Kölns.

„Wir haben hier bessere Luft, es ist ruhiger und man kann seine Zeit auch auf der Straße verbringen, ohne auf den Verkehr achten zu müssen“, erzählt Hans-Georg Kleinmann, einer der ersten Bewohner der Siedlung. Gerade bei Familien mit Kindern kommt das Konzept gut an. Der Nachwuchs kann ungestört auf der Straße vor dem Haus toben. Doch auch die Erwachsenen verbringen bei gutem Wetter gerne ihre Freizeit vor dem Haus. Zahlreiche Bänke und kleine Plätze mit Bäumen laden in der Siedlung zum Verweilen ein. “Die Vorteile des autofreien Lebens genießen”, so lautet das Motto der rund 1450 Bewohner.

1995 hatten sich mehrere Leute zu einer Bürgerinitiative zusammengeschlossen und eine autofreie Siedlung gefordert, ein Wohnareal mit weniger Lärm und Abgasen. Zusammen mit der Stadt wurde das nicht mehr genutzte alte Bahngelände in Nippes als Standort gewählt. Ein Investor kaufte das Grundstück, konnte sich mit der Bürgerinitiative aber nicht auf ein Konzept für die neue Siedlung einigen. Deshalb verkaufte er das Gelände an einen anderen Investor weiter, der in Zusammenarbeit mit der Bürgerinitiative das Projekt umsetzte. Die Bauarbeiten begannen 2005, zwei Jahre später zogen die ersten Bewohner ein. Die Wohnungen sind Eigentumswohnungen oder gehören Versicherungsfirmen und Wohngesellschaften, welche dem Investor die Gebäude abkauften und sie weitervermieteten.

Kreativität gefragt

Die Siedlung ist gut an die öffentlichen Verkehrsmittel angebunden. Eine S-Bahn- und eine U-Bahn-Station befinden sich ganz in der Nähe. Ansonsten sind die Bewohner viel mit dem Fahrrad unterwegs. „Jeder hier in der Siedlung hat mindestens ein Fahrrad“ sagt Angela Wuzik, die selbst mit dem Rad zur Arbeit fährt. Einer der Bewohner leistet sich sogar den Luxus von 14 Fahrrädern – vom Lastenrad übers Mountainbike bis zum Rennrad. In einer Fahrradtiefgarage gibt es für jede Wohnung je nach Größe zwei bis fünf Stellplätze. Für dieses Konzept gab es den dritten Platz beim „Deutschen Fahrradpreis“ 2013.

Wer ohne Auto sperrige Gegenstände transportieren will, muss natürlich kreativ sein. Für den Transport eines Sofas befestigte Hans-Georg Kleinmann kurzerhand eine Sackkarre am Gepäckträger seines Fahrrads und zog das Möbel so fünf Kilometer durch die Stadt. „Das war ganz schön anstrengend, aber auch ein tolles Abenteuer“, sagt er. Mittlerweile gibt es eine 14-köpfige Arbeitsgruppe, die bei größeren Transporten hilft.

Klicken Sie sich hier durch unsere Bilderstrecke zur autofreien Siedlung in Köln-Nippes:

Doch nicht jeder lebt hier autofrei. Jeder fünfte Haushalt darf – so die Siedlungssatzung – ein Fahrzeug besitzen. Am Rande der Siedlung gibt es für die Autobesitzer eigens ein Parkhaus. In die Siedlung rein dürfen aber nur die Müllabfuhr und natürlich alles, was ein Blaulicht hat. Allerdings, ärgert sich Kleinmann, gebe es auch „schwarze Schafe“. Dies hat auch schon zu Problemen geführt, etwa mit anderen Bewohnern von Nippes, die es nicht gerne sehen, wenn plötzlich ein „Autofreier“ ihre Parkplätze besetzt.

Viel Freiraum für die Kinder

„Es ist toll, dass sich unsere Kinder hier frei bewegen können“, sagt Ludger Dinkelbach, der hier mit seiner Frau und seinen beiden neun und elf Jahre alten Kindern lebt. Der Nachwuchs fuhr schon früh per Bobbycar und Fahrrad alleine durch die Siedlung. Und: „Sie haben viele Freunde hier und gehen bei den Nachbarskindern ein und aus“, sagt Dinkelbach. Doch nicht nur die Kinder begegnen sich hier häufig. Gut die Hälfte der Anwohner ist Mitglied im Bewohnerverein. In diversen Arbeitsgruppen und in der jährlichen Hauptversammlung treffen sich auch die, die nicht in unmittelbarer Nachbarschaft leben. „So entstehen auch Freundschaften“, erzählt Angela Wuzik, die seit 2007 in der Siedlung lebt.

Quelle: Privat

Quelle: Privat

Die Arbeitsgruppen gestalten die Flyer der Siedlung, auf denen sich beispielsweise Tipps zum Transport sperriger Güter ohne Auto befinden. Sie organisieren außerdem eine öffentliche Bücherwand oder kümmern sich um die Instandhaltung der „Mobilitätsstation“. Dort stehen Karren oder Bollerwagen, die sich die Mitglieder für größere Transporte ausleihen können. Aber auch Bierbänke und -tische, Pavillons oder Go-Karts stehen zum Verleih bereit.

Nach sieben Jahren ist das 4,3 Hektar große Gelände der Siedlung komplett bebaut. Den letzten Zuwachs gab es im vergangenen Jahr, als rund 300 neue Leute einzogen. Hans-Georg Kleinmann würde sich darüber freuen, wenn neue Siedlungen entstünden: „Wir zeigen doch, dass man autofrei leben kann.“ Seine größte Vision ist ein komplett autofreies Köln. „Das werde ich aber nicht erleben“, schmunzelt er, „dafür müsste ich mindestens zwei- bis dreihundert Jahre alt werden.“

Die „Villa anders“ in Ehrenfeld

Von außen sieht das Gebäude Venloer Straße 561 im Kölner Stadtteil Ehrenfeld genauso unauffällig aus wie die Häuser daneben. Und doch steckt hinter der Fassade etwas komplett Einmaliges: das einzige Mehr-Generationen-Projekt für Homosexuelle in Deutschland. Hier in der „Villa anders“ leben Schwule und Lesben jeden Alters zusammen. Auch Bisexuelle und Intersexuelle wohnen dort. Der jüngste der 43 Bewohner ist 26 Jahre alt, der älteste 72. Jeder Bewohner ist Mitglied im Verein „schwul-lesbisches-wohnen“, dessen Ziel die Bildung solcher Wohngemeinschafen ist.

Was sind die Vorteile des Zusammenlebens in der „Villa anders“? Vier Bewohner erklären, weshalb sie dort eingezogen sind.

„Das Gefühl, hier diskriminierungsfrei leben zu können, ist ganz zentral“, sagt Reiner Matthee, der im November 2009 eingezogen ist. Die „Villa anders“ wurde bisher noch nie Ziel von Anfeindungen. Gabriele Wedde, die ebenfalls seit 2009 in der „Villa anders“ lebt, findet es „toll, dass man hier nicht erklären muss, warum man lesbisch ist“. In ihrer alten Nachbarschaft hätten manche Nachbarn das von ihr erwartet. Aber die „Villa anders“ ist auch ein multi-kulturelles Projekt. Dort leben unter anderem ein Spanier und eine Iranerin. Und sogar ein heterosexuelles Paar ist darunter. „Selbstverständlich nehmen wir die gerne auf“, sagt Gabriele Wedde. Das sei ein Gebot der Toleranz: „Schließlich können wir die nicht nur einfordern, sondern müssen sie auch zeigen.“ Zu viele heterosexuelle Pärchen sollten es aber nicht werden, weil es unterm Strich als Wohnprojekt für Homosexuelle gedacht sei. Wer einziehen darf, entscheidet letztlich die Bewohnerversammlung.

Jeder nach Gusto

Alles geht, nichts muss, so lautet das Motto der Bewohner. Wer lieber für sich lebt, kann das hier ohne Probleme. Wer gerne etwas zusammen mit anderen macht, hat dazu viele Gelegenheiten. So findet zum Beispiel jeden dritten Sonntag im Monat ein sogenanntes Erzählcafé statt, wo die Teilnehmer sich gegenseitig bei Kaffee und Kuchen aus Büchern vorlesen, die ihnen besonders gut gefallen. Der bepflanzte Hof spielt ebenfalls eine zentrale Rolle. „Wer sich in den Garten setzt, bleibt meistens nicht lange allein“, sagt Villen-Bewohner Jochen Weber.

Der Hof verbindet die Adressen Venloerstraße 561 und Helmholtzstraße 104-106. Dieses Haus ist sozusagen eine Filiale der „Villa anders“. Dort wohnen die Vereinsmitglieder, die einen Berechtigungsschein für eine Sozialwohnung haben. Die Wartelisten dafür sind besonders lang. Eine Regenbogenfamilie – also ein gleichgeschlechtliches Paar mit Kindern – hätte in der „Villa anders“ im Moment besonders gute Chancen. So eine Familie nämlich gibt es hier noch nicht.

„Jean-Claude-Letist-Haus“ in Weidenpesch

Die zehn Frauen und Männer zwischen 40 und 65 Jahren, die im Jean-Claude-Letist-Haus im Kölner Stadtteil Weidenpesch wohnen, haben eins gemeinsam: Sie alle sind HIV-positiv. Gebaut wurde das Haus von der Deutschen Aids-Stiftung; 2011 war es bezugsfertig. Benannt ist es nach einem bekannter Kölner Aktivisten für die Rechte von Schwulen, der 1990 an Aids gestorben ist. Das Wohnprojekt richtet sich an HIV-Erkrankte, die es auf dem regulären Wohnungsmarkt schwer haben. Viele der Bewohner können wegen ihrer Krankheit nicht mehr Vollzeit arbeiten und haben deshalb nicht viel Geld. Sämtliche Wohnungen im Jean-Claude-Letist-Haus sind Sozialwohnungen. Jeder wird auf Wunsch durch einen Sozialarbeiter und von der Aidshilfe betreut. Ansonsten leben die Mieter ein eigenständiges Leben.

Mehr Abstand als in einer WG

Der 65-Jährige Klaus – der seinen richtigen Vornamen nicht nennen möchte – wohnt seit drei Jahren hier. Vorher lebte er ebenfalls mit  Aidskranken in einer Wohngemeinschaft. Er hat damals mit seinen Mitbewohnern viel unternommen, was ihm Kraft gab und neue Lebensfreude. Für die Bewohner war es allerdings schwierig, sich zurückzuziehen. Im Jean-Claude-Letist-Haus ist das anders. Wer seine Ruhe haben möchte, der kann alleine in seiner Wohnung bleiben. Dennoch hat sich ein Gemeinschaftsgefühl unter den Bewohnern entwickelt. „Wie in jedem anderen Mehrparteienhaus auch, unternimmt man mit manchen Nachbarn mehr, mit anderen weniger“, sagt Klaus. “Aber im Ernstfall halten wir alle zusammen.“

Im Flur des Hauses hängt eine Plakette mit den Namen aller Unterstützer. Der Name der Deutschen Aids-Stiftung ist darauf nicht ausgeschrieben, sondern mit „DAS“ abgekürzt. Diskretion wird hier groß geschrieben. „Die Bewohner sollen nicht geoutet werden. Manche Familien wissen nichts von der HIV-Erkrankung ihres Verwandten“, sagt Michaela Diers von der Aidshilfe Köln, die das Projekt betreut. Das Jean-Claude-Letist-Haus bietet seinen Bewohnern ein Umfeld, in dem sich niemand für seine Krankheit erklären muss. „Vorurteile gegenüber Aids gibt es in der Bevölkerung immer noch“, sagt Diers. „Dabei ist es eine Krankheit wie jede andere.“ Die Nachbarn scheinen das zu wissen. Mit ihnen hat es noch nie Probleme gegeben.


Martin über die Recherche: “Bei der Recherche habe ich gemerkt, wie vielfältig das Leben ist. Es gibt etliche Möglichkeiten, es zu gestalten. Das gilt nicht nur fürs Wohnen, sondern auch für andere Bereiche wie die Sexualität oder die Freizeitgestaltung. Wichtig ist dabei nur eins: Man muss sich wohlfühlen.”

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